Quickshot - Schnellschuss vom 26.11.2003 Quickshot-Index

Ernst Ludwig Kirchner

Bergleben. Die frühen Davoser Jahre
1917 - 1926

Eine Ausstellung im Kunstmuseum Basel vom 27.9.03 - 4.1.04

Rezension von Carmen Bosch-Schairer

Das Kunstmuseum Basel zeigt einen Überblick über die Gebirgsmalerei Ernst Ludwig Kirchners, dieses frühen Protagonisten des deutschen Expressionismus und Gründungsmitglieds der Künstlervereinigung "Brücke" in Dresden. Als solcher ist er in die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts eingeschrieben und wird mit Badeszenen an den Moritzburger Seen und großstädtischen Flaneuren in Berlins Straßen assoziiert.

Nach den großen Retrospektiven in Washington und London und den Ausstellungen über Sonderaspekte des Werks in Davos und Stuttgart beschließt die Basler Schau dieses Kirchner-Jahr mit der Dokumentation des mittleren Oeuvres, das in der Schweiz, genauer in der Umgebung von Davos, entstanden ist.

Die Ausstellung ist durchweg mit qualitativ hochwertigen und interessanten Exponaten bestückt. Der Schwerpunkt liegt auf Gemälden, darunter viele Hauptwerke. Auch der Holzschnitt ist breit vertreten, dazu Aquarelle, einige Skulpturen und geschnitzte Möbel sowie eigenhändige Fotos von der Umgebung, vom Atelier und von Modellen wie Besuchern. Die Bildplatten wurden vor kurzem entdeckt und sind in Abzügen erstmals öffentlich zu sehen. Als Begleitprodukt werden gewebte Bildteppiche gezeigt, die Lise Gujer nach Kirchners Entwürfen fertigte.

Kirchner kam durch Zufall von Berlin nach Davos. Nach kurzem Wehrdienst im Jahr 1915, der mit der gesundheitsbedingten Freistellung endete, erholte er sich jahrelang nicht mehr. Nervliche Zerrüttung, Alkohol- und Medikamentensucht führten zu lebensbedrohlichen Zuständen, die man in verschiedenen Sanatorien zu kurieren suchte, darunter auch in Davos. An die hochalpine Bergwelt gewöhnte er sich nach anfänglicher Abwehr so sehr, dass er zunächst zeitweise, ab 1918 dauerhaft und mit offizieller Niederlassungsbewilligung in der Nähe von Davos lebte, das er nur noch für Reisen verließ. 1938 starb er dort durch Selbstmord, eingeholt von der deutschen Bedrohung, die nach dem Anschluss Österreichs gefährlich nahe an die zweite Heimat des als "entartet" gebrandmarkten Künstlers gerückt war.

Betritt man den ersten Gemäldesaal der Ausstellung, fällt es angesichts der Almhütten, Waldschluchten und Gebirgspanoramen schwer zu glauben, dass diese farbige Bilderwelt von demselben Maler stammt, der wenige Jahre zuvor seine krassen Selbstbildnisse als Trinker und als kriegsversehrter Soldat (beide 1915) oder die hochexpressive Holzschnittserie zu "Peter Schlemihl" (1916) geschaffen hatte.

Zwar hatte er sich auch zuvor mit Landschaft auseinandergesetzt, doch jetzt sah er sich vor ganz neue Herausforderungen gestellt. Früher war die Landschaft fast immer Hintergrund für Figurenkompositionen gewesen, doch jetzt geriet sie zum Hauptthema, dem umgekehrt die Berghütten und Dörfer, die arbeitenden Menschen und Tiere als Staffage dienten.

Kirchner arbeitete mit denselben stilistischen Mitteln wie bisher, mit großzügig summierenden, das Detail überspielenden Formen, mit dichten Strichlagen und einer intensiven, anaturalistischen Farbigkeit. Der Gegenstand erzwang jedoch andere künstlerische Lösungen als die bisher bevorzugten Sujets, das bewegte, vielgestaltige Stadtleben und der Individualismus der Großstadtmenschen.

Kirchner erfasst das Gebirge oft als Panorama, meist im großen Bildformat. Aus vielen Einzelansichten von Wiesen, Baumgruppen, Bergflanken und Gipfelketten mit je eigener Perspektive entstehen Kompositionen, die weniger einen Tiefenraum als eine ornamentale Fläche bilden. Auf raumschaffende Mittel wie perspektivische Verkürzung und distanzierende Farbigkeit verzichtet er weitgehend, ebenso auf Schattierung. Er vertraut die Charakterisierung der Landschaft vielmehr der Farbe an.

Die Farben orientieren sich am Tageslicht, den kühlen grünen und blauen Farbtönen des frühen Morgens wie im "Alpaufzug", 1918/19, oder der roten Beleuchtung durch die untergehende Sonne wie in der "Rückkehr der Tiere", 1919. Besonders die Schneelandschaften leuchten in Blau-, Lila- und Rosatönen, wie sie das wechselnde Tageslicht hervorruft. Die anaturalistische Wirkung rührt daher, dass er die Farben intensiviert und die Kontraste verstärkt.

Diese halluzinatorische Farbigkeit wird gebändigt durch die konstruktive Verfestigung der Komposition. So entsteht eine aparte Variante von Kirchners Individualstil, eine Art konstruktiver Expressionismus. Es fehlt die Verve der Berliner Werke mit ihrem vibrierenden Strich und dem hohen Abstraktionsgrad, der die Vorstellungskraft des Betrachters ungleich stärker stimuliert. Die Komposition ist ausbalanciert, in sich geschlossen, der Strich wird breit und ruhig. Gleichwohl eignet auch den Gebirgsbildern das Potenzial, das Kirchners Oeuvre auszeichnet, die Welt fremd und neu zu zeigen.

Wo er nicht das Panorama, sondern Ausschnitte wählt, gelangt er zu kubisch-abstrakte Formen, die fast als freie Kompositionen zu lesen sind. Das gilt etwa für den "Entwurzelten Baum", 1922. Das Bild erhält durch die Diagonale des gefallenen Stammes die Dynamik, die man bei den statischen Überblicksansichten vermisst.

An Hauptwerken dieser Zeit sind außer den genannten zu sehen: "Mondaufgang auf der Stafelalp", 1918, "Wintermondlandschaft", 1919, "Tinzenhorn", 1919/20 und "Vor Sonnenaufgang", 1924, dazu viele andere, teils überwältigend schöne Gemälde.

Kirchner hatte - wenn auch unter einem Pseudonym - selbst zuerst darauf hingewiesen, dass seine Gebirgslandschaften die große Tradition dieses Genres in die Gegenwart hinein fortsetzten. Man muß sich in der Tat klar machen, dass er der Schweizer Gebirgsmalerei von Caspar Wolf, Joseph Anton Koch und Giovanni Segantini bis Ferdinand Hodler die Sicht des avantgardistischen Metropolenkünstlers hinzufügte, den der Zufall in diese periphere Region geführt hatte.

Die Interieurs, die die Ausstellung bietet, "Alpenküche", 1918, und "Atelierecke", 1919, leben von der Struktur der hölzernen Wand- und Deckenpanele, der gestreiften Teppiche und farbigen Bezüge, die in farbstarke, flächig-ornamentale Kompositionen überführt werden, und dies trotz der auseinanderklappenden Perspektiven, die fast jedes Objekt in seinem eigenen, charakteristischen Blickwinkel zeigen.

Ähnlich verfährt Kirchner bei den Porträts dieser Zeit, darunter mehrere Selbstporträts wie das als Kranker im Bett, 1918, als Maler, 1919/20, und mit Katze, 1920. Es sind Kompositionen aus geschichteten Farbflächen, die den Porträtierten nicht anders behandeln als die Gegenstände und den Raum, die ihn umgeben.

Den zweiten Schwerpunkt der Ausstellung neben der Malerei bilden die Holzschnitte, die die Thematik der Gemälde bearbeiten und Szenen des bäuerlichen Lebens sowie Porträts von Bergbauern wie Freunden und Bekannten zeigen. Die Vielfalt der Schnittechniken, die Kirchner zu Gebote stand, erzeugt subtile Hell-Dunkel-Effekte und reich differenzierte Bildstrukturen. Es ist nicht einfach, sich in die strenge, lineare Ästhetik des Schwarzweiß einzusehen nach dem Farbenrausch der Malerei, doch es lohnt die Mühe.

An Skulpturen sind die fast lebensgroßen Figuren "Adam" und "Eva", 1921 und "Die Freunde", 1924 vorhanden, dazu Kleinplastik wie der Bauer "David Ambühl", 1918, und der "Bube mit Beil", 1919, sowie ein Stuhl mit großem Akt auf der Rückenlehne, ca. 1920. Fast alle diese Werke waren in der Stuttgarter Ausstellung über Kirchner als Bildhauer zu sehen. Wie dort hinterlassen sie auch hier den Eindruck, dass der Künstler im plastischen Werk hinter seinen Möglichkeiten als Maler wie als Holzschneider zurückbleibt.

Ob Kirchners Alpenbilder dem Werk der Dresdener und Berliner Jahre ebenbürtig sind oder das Nachlassen der künstlerischen Potenz markieren, darüber kann man geteilter Meinung sein. Sicher ist, dass er von 1918 bis Mitte der 20er Jahre seine letzte authentische Ausdrucksform fand, denn darauf folgte das jahrelange Ringen um Anschluss an die internationale Kunstentwicklung, konkret an den französischen Kubismus. Hier gelang es ihm nicht mehr, eine eigenständige Formensprache zu finden. Kurz vor seinem Freitod kehrte er wieder zurück zu der ornamentalen Flächigkeit der 20er Jahre.

Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung von Carmen Bosch-Schairer
© Carmen Bosch-Schairer 2003

Die Ausstellung

Dauer: 27. September 2003 – 4. Januar 2004

Öffnungszeiten: Di–So 10–17 Uhr, montags geschlossen

Kunstmuseum Basel
St. Alban-Graben 16, CH-4010 Basel
Telefon +41 (0) 61 206 62 62
Telefax +41 (0) 61 206 62 52

Ein Katalog der Ausstellung mit 180 Seiten und 152 Abbildungen, davon 126 in Farbe, Format 24 x 28 cm, ist erhältlich (Preis: 48 CHF, ISBN: 3-7204-0147-2)

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