Quickshot - Schnellschuss vom 24.08.2003 Quickshot-Index

Wolf Richard Günzel: Das Mädchen in der Zündholzschachtel

Ein satirischer Roman in erzkatholischem Milieu

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Dem Autor dieses in einer nicht näher definierten Vergangenheit im klamm-katholischen Milieu eines bundesrepublikanischen Dorfes spielenden Romans ist es gelungen, den von engen Maßstäben geprägten Terror in einer Familie so bravourös satirisch überhöht darzustellen, dass es paradoxerweise großes Vergnügen bereitet, dieses 175 Seiten lange Werk mit seiner tragischen Thematik zu verschlingen. Erreicht wird dies insbesondere durch eine dynamische Strukturierung in kurzen Kapiteln, die in Form von Vor- und Rückblenden auf unterschiedliche Zeitebenen beim Leser Spannung und Erwartung erzeugt und schlussendlich zu einem abgerundeten Mosaik führt. Anklänge an Heinrich Böll? Ja und nein. Der Leser bilde sich sein eigenes Urteil – die Lektüre dieses Romans dürfte er keinesfalls bereuen.

J.B.

Leseprobe

Einige Tage lang betrachtete Kaspar Hohlbein die Trümmerreste seines Lebens fassungslos. Er verglich sein Dasein stets mit einem Haus. Er hatte es sorgfältig geplant und unter großen Mühen aufgebaut. Stein für Stein hatte er auf das stabile Fundament gefügt, die Fassaden geputzt und mit schneeweißer Farbe getüncht. Jetzt hatte ihm ein Orkan das Dach samt Dachstuhl weggeblasen. Verbittert stolperte er durch die Ruine wie ein unglücklicher Zwerg, den mitleidigen Blicken seiner Nachbarn, in die sich Häme mischte, ausgesetzt. Dann erwachte sein Wille, den Schaden zu beheben. Heimlich, still und leise, wie er in solchen Fällen vorzugehen pflegte, entwarf er den Plan für den Wiederaufbau, und er sah das alte neue Haus schon vor sich, renoviert und frisch gestrichen.
Er fragte seine Tochter nicht, ob sie den Kerl, der sie geschwängert hatte, heiraten wolle. Er setzte es voraus. Es konnte gar nicht anders sein. Es war die einzige Möglichkeit, die Schande einzudämmen, dieser unseligen Beziehung wenigstens einen legitimen Rahmen zu geben. Schwieriger stellte er sich eine Übereinkunft mit dem sexbesessenen Fremden aus dem Forsthaus vor. Er hatte inzwischen erfahren, daß er evangelisch war, und irgendwie sah er damit seine Vermutungen bestätigt, daß man mit solchen Leuten nur unter Vorbehalt verkehren durfte. Zudem mußte man ausloten, wie es sich mit seiner marxistischen Gesinnung verhielt. Man hatte sich ja oft genug schon über die unberechenbaren Reaktionen dieser Leute aus dem Ostblock gewundert, ihren widerborstigen, proletarischen Stolz, mit dem sie ihre atheistische Weltordnung beklatschten und womöglich einen Mann wie ihn, der es mit Gottesfurcht, Rechtschaffenheit und Fleiß zu ein wenig Wohlstand gebracht hatte, als Klassenfeind und Vertreter der verhaßten Bourgeoisie betrachteten. Doch ließ sich mit solchen Spekulationen wenig anfangen, wenn das Kind erst einmal in den Brunnen gefallen war beziehungsweise wie eine Zeitbombe im Bauch seiner Tochter tickte. Dieser Mensch hatte jedenfalls keinerlei Ansprüche auf seine Gunst. Aber man könnte vielleicht noch einen zweitklassigen Schwiegersohn aus ihm machen, wenn er gewisse Bedingungen akzeptierte, die seine Chancen auf Vergebung auf Erden wie im Himmel nur verbessern konnten. Georg mußte zum katholischen Glauben übertreten. Nur wenn er konvertierte, war eine Grundlage für eine halbwegs vernünftige Ehe gegeben. Er konnte seinen Übertritt ja zunächst einmal als Formalie betrachten. Denn Kaspar erwartete selbst nicht, daß der Funke des rechten Glaubens von einer Sekunde zur anderen auf ihn überspringen würde. Aber nach und nach würde die Kraft des heiligen Geistes sicher auch seine Gesinnung ändern, und den Rest wollte Kaspar selbst besorgen, indem er ihm vorlebte, wie man zu einem frommen, glücklichen und zufriedenen Menschen wurde.

   

Über den Autor

Wolf Richard Günzel, geb. 1941 in Bad Muskau (Oberlausitz). Inhaber einer Offset-Druckerei.

Journalistische Arbeiten
Seit 1982 Reiseberichte/Artikel aus dem Ökologiebereich, mit eigenen Naturfotos, u.a. in Rheinischer Merkur, FAZ, Der Spiegel, Kosmos, Das Tier, Wild und Hund, Mein schöner Garten, Aqua-Geo, Stadt Gottes, Weltbild.

Buchveröffentlichungen
Als Gertrud fliegen lernte, Novelle, Bläschke Verlag.
Teiche und Moore, Sachbuch mit eigenen Naturfotos, Dähne Verlag.
Wasser - Lebenselement, Bild-/Textband mit eigenen Naturfotos, Schmettkamp Verlag.
Die Zähne des Windes, Roman, Scheffler Verlag.
Gefiederte Träume, Märchen, Scheffler Verlag.

Mitarbeit
Ein Mythos stirbt im Kral, Reisebericht (über Kenia, Mauritius, Seychellen), Heyne Verlag

   

Wolf Richard Günzel, Das Mädchen in der Zündholzschachtel, Roman, Weissach im Tal: Alkyon 2002, € 11,40, ISBN 3-933292-40-9. Im Buchhandel oder Online-Buchhandel erhältlich, z.B. bei Amazon.
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