Quickshot - Schnellschuss vom 05.08.2001 Quickshot-Index
»Knarre mit Begleitmusik« – Lethems Chandler-Hommage an die Zukunft

Die bei Heyne erschienene Übersetzung ist leider vergriffen. Gebrauchte Exemplare sind zu teilweise ziemlich hohen Preisen erhältlich.

Zu Marketingzwecken wird bei den verschiedensten Krimiautoren immer wieder von einem neuen Chandler geredet – meist zu Unrecht. (So hat meines Erachtens auch Robert Parkers bewusster Versuch von 1989, Chandlers Poodle Springs-Fragment zu Ende zu schreiben, zu einem eher lauwarmen Produkt geführt. Dies jedoch nur nebenbei.)

Ein Autor, der es verdient, ein würdiger Nachfolger von Chandler genannt zu werden, ist zweifellos Jonathan Lethem mit Gun, with Occasional Music, einer 1994 erschienenen Mischung aus pessimistischer Zukunftsvision und Roman Noir.

Diese Welt der Zukunft ist gekennzeichnet durch evolutionierte Tiere, ein System von auf kleinen Plastikkarten gespeicherten Karmapunkten für jedermann und Make, eine legalisierte Drogenmischung, die das Dasein erträglicher gestalten soll. Kinder werden sofort nach Geburt genetisch manipuliert und dadurch zu Babyheads mit einer Größe von ca. 90 cm mit den körperlichen Merkmalen von Kindern in Verbindung mit der Artikulations- und Denkfähigkeit von Erwachsenen. Sie genießen eine Art Sonderstatus und treiben sich hauptsächlich in Babybars herum, wo sie Alkohol konsumieren und Karten spielen.

Die vermenschlichten Tiere haben Menschen bei fast allen niedrigen Arbeiten ersetzt, sind jedoch durchaus in der Lage, auch professionelle Jobs zu übernehmen, wie etwa Gangster (z.B. Joey, ein Känguruh) oder Privatdetektiv (z.B. Walter Surface, ein Affe).

Die Droge Make kann durchaus als Variante von Aldous Huxleys Soma aufgefasst werden. Zu Beginn der Romanhandlung gibt es noch individuelle Mischungen, zum Schluss – sechs Jahre später – nur noch eine vom Staat verordnete Formel mit so viel Forgettol, dass die Konsumenten so gut wie nichts mehr über sich selbst wissen und bei Fragen zu ihrer Vergangenheit ein kleines elektronisches Memory konsultieren müssen.

Wie Chandler verwendet auch Lethem eine effektive Mischung von zwei an sich gegensätzlichen Stilmitteln: Overstatement – z.B. in den aufgeblasenen Drohgebärden der Dialoge und in den weit hergeholten, ausschweifenden, aber seltsamerweise immer passenden Metaphern – und Effizienz in der Schilderung von Personen, Umgebung und Ereignissen.

Ganz offensichtlich ist der Punkt, den Lethem auf Chandler draufsetzt, der Science Fiction-Aspekt. In puncto Handlung ist dieser Roman linearer und deshalb weniger gelungen als die besten Chandlers (etwa Die Tote im See). Trotzdem kann man es kaum erwarten, am Ende zu erfahren, wer Dr. Maynard Stanhunt nun tatsächlich umgebracht hat.

Das erste Werk eines vielversprechenden Autors, der mittlerweile in den USA Kultstatus genießt. Eines ist sicher: weitere Bücher von Lethem werde ich mir nicht entgehen lassen.

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