Kurzprosa von Walle Sayer

   

Inhalt

Exposé für ein Melodram
Ammenmärchen
Ortsangabe

   

Exposé für ein Melodram

    In einem guten Melodram gibt es keinen Sicherheitsabstand zwischen Wunsch und Erfüllung. Der Kitsch ist nichts anderes als deformierte Sehnsucht. Der Zufall fungiert als Stellwerk, von dem aus verlaufen die Geleise des Vorbestimmten. Es fängt damit an, dass sie sich etwas Abendröte auf den Wangen verreibt. Es folgt Lächeln, Tanzen, bis beide genug an Schweben intus haben. Dann Herzgespinste, Engelsattribute und ein Strauss roter Schlingpflanzen. Jetzt macht sie beim Küssen die Augen zu, damit sie ihren Traummann besser sehen kann. Die beiden fangen ein Vierecksverhältnis an mit den Bildern, die sie sich voneinander machen. Legen sich dabei auf ein Schneelaken, bis ihre Körper schmelzen. Was mit dem Jawort schliesslich verneint wird, gilt auch rückwirkend. Der Kopf wird an einen Wehenschreiber angeschlossen. Vielleicht schreit in der nächsten Einstellung schon ein Säugling, der wie ein Liebesmaskottchen wirkt. Die Zeit wird zur Füllmasse. Wochen, Monate, mit dem Längenmass der Augenblicke vermessen. Wie Insassen sitzen sie in einem Zimmergeviert, einem Innenraum mit vier Aussenwänden. Beide lernen, schwindelfrei zu lügen. Irgendwann sagt er: Verzeih mir deine Träume. Und sie hält ihn mit ihrem Wurfarm fest. Rückblenden in das, was kommen wird. Die klassische Konstellation: sie hat sich heiser geschwiegen, er hat nichts gehört. Dann geht es weiter, eine Schneckenrasanz, bis die Würfel gefallen sind und auf dem Boden liegen, und niemand hebt sie auf. Warum, weshalb, wieso: selbst wenn er all dies wüsste, gäb's immer noch den Grund für ihre Gründe. Sie gehen auseinander, als könnte es ein Danach geben ohne Davor. Das letzte Bild, ein Photofinish. In der Ferne springen die springenden Punkte davon.

   

Ammenmärchen

Ein Spätsommertag war es, an dem die Scheunen am Ortseingang sich selbst entzündeten und die Hebamme schläfrig wurde vom Warten. Deine Haut schon bläulich verfärbt, kamst du an. Drei Schläge brauchte es. Eine bucklige alte Frau wiegte dich zuerst in den Armen. Später rieb sie deinen Milchschorf mit einer Speckschwarte ein. Die Nachgeburt, beim Nußbaum vergraben, scharrten nachts die Höfleskatzen hervor. Um das Böse nicht anzulocken, durfte bis zur Taufe keine Säuglingswäsche aufgehängt sein im Garten. Ein Kind bist du gewesen, dem man seinen Schnuller hat verbrennen müssen. Gefürchtet hast du dich vor den Blicken des Fleischbeschauers und seinem ausgepackten Mikroskop. Von Anfang an, als du laufen konntest, führte dich der heilige Antonius an die Stellen und Plätze, wo die verlorenen und verzweifelt gesuchten Dinge lagen. Selbst die Nachbarn holten dich deswegen in ihre Häuser. Bei den Richtfesten wolltest du immer auf den Schultern des Vaters sitzen, um besser hinaufsehen zu können zu den obersten Dachbalken, wo der Zimmermeister stand und sein Glas herunterwarf in weitem Bogen. Seinen gereimten Spruch, der den Segen erbat für das Haus, Nöte fernhaltend und Feuer bannend, hast du überall aus heitrem Himmel vor dich hingesagt, selbst beim Einschlafen noch. Einmal hast du ein Kohlestück ausgekocht in Weihwasser und selbst unter Schlägen nicht verraten, was du damit wolltest. Über Nacht geheilt war dein Bettnässen, als die alte Theres unter deiner Matratze ein Hexenhaar fand. Mit den Jahren bist du allen über den Kopf hinausgewachsen und jetzt schon so alt, wie einer deiner Vorfahren es war, als er seinerzeit umkam beim Rußlandfeldzug Napoleons.

   

Ortsangabe

Ein Fenster zur Hauptstraße mit einem verzogenen Rahmen. Von hier aus, eingekeilt zwischen Himmelsausschnitt und Erde, der Blick hängt an den Wolkenzipfeln, streicht dann hinweg übers Dächermassiv. Zufriedene Rohrspatzen hocken auf dem gegenüberliegenden First. Darunter steht den ganzen Morgen schon ein Viehanhänger, eine scharrende Kuh darin mit schwarzen Augenklappen.
Der Wetterhahn des Kirchturms kräht nicht dazu, seit den Herbststürmen schräggeknickt, hat sich alles verschoben unter ihm.
Auf den Briefträger warte ich, der die postalischen Irrläufer zustellt.
Die am Haus vorbeigehen, sie kennen etwas von mir, das sie zur Fensterbank herauf mit einem stummen Nicken grüßen läßt. Wovon lebst du, ist immer die erste Frage. Nie will jemand wissen wofür. Es geht, sage ich, und verschweige wohin.
Mir ist hier überall wie allerorten, wo seit jeher die Realteilung der Erinnerung herrscht, bis man nur noch einen Uniformknopf in den Händen hält und die Mehrheiten im besten Fall für eine Weinköniginnen-Monarchie votieren.
Von morgen auf heut rennen die Jahre auf Zinsfüßen davon, die Flächen lösen sich auf im Nutzungsplan, eine Vorspiegelung richtiger Tatsachen erscheint schon als Wahrheit.
Querwelteinwärts balanciert meine Ortsfremdnis auf diesen Landstrichen, wo sich im Morgennebel jeder Maulwurfshügel zu einer umwölkten Empore erhebt. Mit beiden Füßen fest in der Luft hat man einen Standpunkt, um die Gegenwart auszuhebeln. Mit zusammengebissenen Augen kann ich dann sogar in der Ferne Archäologen sehen, die Zapfsäulen ausgraben.
Das Meiste ist hier im Leerlauf der Zeit zu einer Tümelei gemacht worden, selbst das Fortwollen, so daß man inzwischen ungetrost bleiben kann. Mit den Angaben aus einer flüchtig gelesenen Vermißtenanzeige läßt sich auf jedem Einwohnermeldeamt ein Formular ausfüllen.
Als Nationalität trage ich nur noch wehrlos ein, dies Wort, das die Nazis strichen aus dem Germaniaschlußvers der vaterländischen Gesänge Hölderlins.
Es geht.
Man kann sich auf dem Grund des Bodenlosen einrichten, kann seßhaft werden in der Ruhelosigkeit. Als hätte, wo man ist, etwas zu tun mit Anschrift oder Anwesenheit.
Zur Abgeschiedenheit reicht eine Zimmerecke.
Der Atemhauch tropft Eisblumen um. Die Stille souffliert.
Im Traum bringe ich Felsbrocken mit heim und stopfe sie in Kissenbezüge.

Copyright © Walle Sayer 2000.

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